Am Waldrand wohnt die Wahrheit - Eine Kurzgeschichte
Der Wind trug den Geruch von feuchtem Laub aus dem Hallberger Wald herüber. Samuel zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Gerüchte im Dorf ließen ihn nicht los: Eine alte Frau am Waldrand könne Kranke heilen – und schlimmer noch: von Sünden reinwaschen.
Für Samuel, Priester im Dienst Gottes, war das nicht nur Aberglaube. Es war eine Bedrohung. Nur die Kirche durfte Sünden vergeben. Alles andere war Ketzerei.
Mit schnellen Schritten verließ er den schmalen Weg und drängte sich durchs Unterholz. Je näher er kam, desto mehr pochte sein Herz. War es Wut? Oder etwas anderes, das er nicht benennen wollte?
Vor einer windschiefen Holzhütte blieb er stehen. Rauch stieg aus dem Schornstein.
„Hallo? Ist hier jemand?“ rief er.
Keine Antwort.
„Haaaaalloooo!“
Die Tür öffnete sich leise. Eine Frau mit grauem Haar und klarem Blick trat heraus.
„Guten Tag, Herr. Suchen Sie etwas?“
„Ich suche dich, Weib. Man sagt, du würdest Kranke heilen… und Menschen von ihren Sünden befreien.“
„So sagt man?“ Ihre Augen blitzten kurz. „Und was sagen Sie, Herr…?“
„Samuel. Bruder Samuel. Und ich sage, dass nur Gott heilen kann – und nur seine Diener die Macht haben, Sünden zu vergeben.“
Sie lächelte mild. „Vielleicht stimmt das. Vielleicht auch nicht. Ich heile niemanden. Die Natur heilt. Ich gebe nur, was sie mir gibt – Kräuter, Wurzeln, Tinkturen. Den Rest macht etwas, das größer ist als wir beide.“
„Unsinn! Was du tust, ist verboten. Das Volk braucht keine Kräuterweiber, die ihre Münzen nehmen und falsche Hoffnungen säen.“
„Vielleicht braucht es genau das, Samuel – Hoffnung. Manchmal heilt sie schneller als jedes Gebet.“
Er wollte etwas erwidern – doch da beugte sie sich plötzlich vor, packte den Türrahmen und hustete heftig. Reflexartig trat er näher, stützte sie und half ihr ins Haus.
Drinnen roch es nach getrockneten Pflanzen und Rauch. Regale voller Gläser, beschriftet mit seltsamen Namen, säumten die Wände.
„Hol mir die gemahlene Weidenrinde… und die getrocknete Arnikawurzel“, flüsterte sie.
„Wo?“
„Hinten links. Die Weidenrinde ist mit Cortex Salicis beschriftet, die Arnika mit Arnica Radix.“
Er fand die Gläser, brachte sie ihr.
„Setz dich, Samuel.“
„Woher… kennst du meinen Namen?“
„Ich kenne viele Namen. Namen sind leicht. Schwer ist es, die Seele dahinter zu sehen.“
Sie setzte das Wasser über das Feuer, mischte die Kräuter hinein.
„Du bist hierhergekommen, um mich zu verjagen. Aber bevor du entscheidest, ob ich eine Hexe bin – hör mir zu.“
Er blieb stehen, die Arme verschränkt.
„Jede Krankheit, Samuel, trägt auch ein Symbol in sich. Manchmal ist Schmerz nur der Schrei einer Seele, die zu lange ignoriert wurde. Heile die Wurzel – nicht nur das Symptom. Das ist wahre Heilung.“
„Und was ist mit Sünden?“
„Sünden? Nenn es, wie du willst. Schuld, Wut, Selbsthass… sie sind wie Unkraut. Du kannst sie abschneiden, aber wenn du die Wurzel nicht ziehst, wachsen sie wieder. Manchmal sogar stärker.“
Sie ging zum Bett, zog eine kleine Truhe hervor und legte ihm einen schweren Schlüssel in die Hand.
„Darin ist ein Buch. Morbum Symbolum. Krankheiten und ihre seelischen Ursachen. Lies es. Versteh es. Und wenn du den Mut hast, lehre es weiter. Vielleicht wirst du eines Tages erkennen, dass Heilung nicht gegen Gott steht – sondern durch ihn geschieht. Gott ist nicht eine Person, sondern alles, was uns umgibt – und in allem zu Hause.“
Samuel sah den Schlüssel in seiner Hand an. Draußen peitschte der Wind gegen die Wände der Hütte.
Er wusste, als er ging, dass er nicht nur mit einem Buch heimkehrte – sondern mit einer Verantwortung, die größer war als sein Amt.
Gedanke zum Mitnehmen:
Vielleicht ist das, was wir am meisten fürchten, nicht unser Feind – sondern unser Lehrer.
Manchmal kommt das, was wir für Ketzerei halten, als unsere größte Lehrmeisterin daher. Und manchmal sind wir erst dann wirklich Diener des Lebens, wenn wir aufhören, es zu kontrollieren.
Yves Seeholzer, 13. August 2025